Im Netz gibt es so einiges zu lesen. Manches bringt einen zum Lachen, manches regt einen auf und dann gibt es noch diese Dinge, die einen zum Nachdenken animieren, wie z.B. der folgende Thread, den ich neulich in meiner Timeline hatte.
Ein spannendes Thema, wie ich meine!
Wer mich kennt, der weiß, dass ich diese verbohrte und aufgeheizte Diskussionskultur im Social Web ohnehin zum Kotzen finde. Dabei ist es im Grunde genommen völlig gleich, um was es geht: Flüchtlinge, Erziehung, Ernährung, Fußball, das Fernsehprogramm… Jeder im Netz ist ein Experte für alles! Der Andere hingegen ist dumm wie Brot und darf dankbar sein, sich belehren zu lassen.
Ich bin ja eigentlich nur wegen der kostenlosen Belehrungen hier!
— Shellfollower (@shellfollower) May 10, 2016
Kurz gesagt: Einfach nur zum Abgewöhnen! Das, was Jan in seinem ersten Tweet sagt, kann ich, ohne groß darüber nachdenken zu müssen, unterschreiben.
„Ich denke…“
„Ich glaube…“
„Ich meine…“
„Ich bin nicht sicher, aber…“Probieren Sie es aus! Es lässt sie unheimlich sympathisch wirken, wenn sie nicht wie ein allwissendes Arschloch rüberkommen.
— Juri Kristiansen (@DerBueriff) April 4, 2019
Ein Spiegelbild der Gesellschaft?
Worüber ich allerdings ein wenig grübeln musste, war die Frage, ob die Sozialen Netzwerke nicht vielleicht doch so eine Art „Spiegelbild der Gesellschaft“ sind. Immerhin sind Facebook, Twitter & Co. inzwischen in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Die „Social-Media-Verweigerer“ sind gnadenlos in der Minderheit. Zahlen belegen das.
Also warum sollte man nicht einen „Das sagt das Netz zu…“-Beitrag nach dem anderen schreiben? Das Volk will doch gehört werden!? Wozu denn sonst schreiben wir Tag für Tag mühevoll unsere Tweets? Ist doch eigentlich ganz nett, dass auch wir endlich mal zu Wort kommen dürfen.

Nur im Internet findest du die ungeschminkte Wahrheit!!!!!11!
Dass es Beiträge dieser Art en masse gibt, klingt in meinen Ohren plausibel. Warum sich also an diesen stören?
»Nicht alles, was plausibel klingt, ist auch grundsätzlich wahr.«
Das pflegte ein alter Freund von mir, immer zu sagen. Einer der schlausten Sätze, die ich in meinen 33 Jahren bislang hören durfte, weil diese Weisheit häufiger passt, als es einem lieb ist – so wie auch in diesem Fall.
Social Media sind nicht repräsentativ!
Trennt euch von dieser Idee! Absoluter Humbug!
Mag sein, dass selbst die „Silver Surfers“ das Internet inzwischen für sich entdeckt haben und heute gefühlt jeder am chatten, mailen und twittern ist. Mag sein, dass inzwischen ein Viertel der Weltbevölkerung einen Account bei Facebook, Instagram oder WhatsApp hat.
Nichtsdestotrotz können Tweets, Posts und schlag mich tot der guten, alten Meinungsforschung niemals das Wasser reichen, wofür es gleich mehrere Gründe gibt.
1. Demographische Datenlage
Auf Facebook, Twitter & Co. sind nicht alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen vertreten.
Nach wie vor sind hauptsächlich die 14 bis 29-jährigen im Social Web aktiv (56%). Bei den Nutzern über 30 sieht es schon etwas mauer aus (13%). Die über 50-jährigen werden zwar mehr, stellen aber immer noch die Minderheit (3%). Wenn wir also sagen »Das sagt das Netz!«, dann ist das in etwa gleichbedeutend mit: »Das sagen die jungen Menschen, die internetaffin sind und auf Datenschutz scheißen.«
Funfact: Der Titel meiner Bachelor Thesis hatte den unheimlich spannenden Titel „Datensicherheit in der Online-Kommunikation“.
Nicht zu vergessen: Des Weiteren gibt es noch zig andere demographischen Merkmale, wie z.B. Herkunft, Einkommen, Bildung, etc. Glaubt ihr tatsächlich, dass Facebook und Twitter in jeder Region gleich stark genutzt werden und dass alle sozialen Milieus im gleichen Maße online vertreten sind?
2. Nicht alle sind gleich laut!
Ich weiß, ich sollte es nicht, aber vielleicht bin ich doch nur ein Masochist, ohne mir darüber bewusst zu sein: Zu Großereignissen, Skandalen, usw. lese ich mir des Öfteren unter den dazugehörigen Hashtags durch, was die Leute so zu sagen haben.
Wer meine Leidenschaft fürs Gehirnzellenmassaker teilt, wird wissen, was er da zu lesen bekommt: Extreme pur! Die einen sind pro, die anderen sind contra, etwas dazwischen findet man nicht.
https://giphy.com/gifs/fail-cheezburger-insane-Psrpn0e5P4k36
Wären also Facebook und Twitter ein „Spiegelbild der Gesellschaft“, dann würde das weitergedacht bedeuten, dass es scheinbar nur Gutmenschen und Nazis in diesem Land gibt, Feministen und Chauvinisten, Veganer und Fleischfresser… Etwas dazwischen gibt es nicht! Deutschland ist in jeder erdenklichen Diskussion zweigeteilt – selbst 30 Jahre nach der Wiedervereinigung. Wo soll das alles nur hinführen?!?
Natürlich nirgendwohin! Denn der Eindruck täuscht. Es gibt nicht nur pro und contra, schwarz und weiß… Wir sollten folgendes nämlich nicht vergessen: Im Social Web wird sich niedergeschrien, was das Zeug hält. Frei nach dem Motto: Der Lauteste hat recht! Oder um es mit Jans Worten auszudrücken: »Es geht nur noch um die eigene Position und wie lange man schon auf dies und das hinweist.«
Glaubt ihr denn wirklich, dass gemäßigte Personen respektive „Menschen der Mitte“ bei diesem Affenzirkus mitmachen?
Zumal es auch einige Accounts gibt, die (so ziemlich) gar nichts twittern, sondern nur zum Lesen registriert sind. Nicht jeder hat das Bedürfnis, sich zu allem und jedem zu äußern.
3. Vorsicht: Filterblase
Welche Tweets werden dir wohl als erstes angezeigt?
Twitter hat nicht den Anspruch, dir ein ausgewogenes Meinungsbild zu präsentieren. Du sollst mit Inhalten versorgt werden, die dich interessieren, damit du mehr Zeit im Netzwerk verbringst. Um das zu gewährleisten, entscheidet ein ziemlich ausgeklügelter Algorithmus für dich, was du zu lesen bekommst.
Daraus folgend wirst du in deinen Ansichten häufiger bestätigt als es die Realität eigentlich zulässt. Warum sollte man dir Inhalte in die Timeline spülen, die dich nicht interessieren oder Tweets anzeigen, die dich abfucken? Vergiss nicht: Man will doch, dass du bleibst!
Und schau mal, wer die große Zustimmung in Form von Likes oder Retweets erhält? Etwa der, mit dem schlausten Spruch? Natürlich nicht! Hauptsächlich die User, welche die größte Reichweite haben.
Es ist auch naheliegend: Schreibst du mit deinen 50 Followern etwas Kluges, wird es wohl kaum jemand lesen. Hast du jedoch (sagen wir mal) 5.000 Follower, so wird sich schon jemand finden, der dir zustimmt – ganz gleich wie bekloppt deine Aussage auch sein mag.
Ein Beispiel gefällig?

2.768 sind schon schockierend. Doch warum zum Geier retweetet man sowas?!?
Fall abgeschlossen!
Social Media: Ein Barometer
Also halten wir ein für allemal fest: Social Media sind weder repräsentativ noch ein „Spiegelbild der Gesellschaft“. Dennoch halte ich soziale Netzwerke nicht für nutzlos!
Ein Tweet ist schneller geschrieben als ein fundierter Kommentar oder Artikel, weswegen sich Facebook und Twitter wunderbar für sogenannte „Instant Reactions“ oder für kurze Eilmeldungen bzw. Live-Ticker eignen. Ein weiterer Vorteil: Der Normalo, wie du und ich, kann via Twitter zum Publisher (Informationsanbieter) werden, da es keinen wirklichen Gatekeeper gibt – also jemanden, der die Informationen vorab selektiert.

Twitter in a nutshell
Und ich finde es auch okay, wenn man Artikel à la „Das sagt das Netz“ veröffentlicht. Man muss sie halt nur als das verkaufen, was sie sind: Kein Spiegelbild der Gesellschaft, sondern lediglich ein Barometer, das Trends aufweisen kann!
Ein guter Journalist kennt den Unterschied, ein medienkompetenter Bürger ebenso. Dass es in dieser Gesellschaft offensichtlich an beidem mangelt, steht natürlich auf einem anderen Papier. Das ist aber ein anderes Thema.
„woman-1253505_1920“ von Gerd Altmann @Pixabay. Bearbeitet von Juri Kristiansen. Lizenz: Pixabay Lizenz
„#Lügenpresse (Deutsche Twitter Trends am 13.03.2019)“ von Twitter Trends 2019 @Flickr. Lizenz: CC BY 2.0
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